Sie stehen im Starthaus. Wenn sich die Fahrerinnen in der Königsdisziplin in die Tiefe stürzen, ist das Ziel klar. Tempo aufnehmen, auf der Ideallinie bleiben und möglichst keinen Fehler machen. Nicht zögern, nicht zweifeln. Die Linie halten, auch wenn die Muskeln brennen. Im Ski-Weltcup der Frauen führen etliche Abfahrten durch steile Passagen, in denen die Athletinnen wenige Sekunden nach dem Start auf über 130 Stundenkilometer beschleunigen. Vorbei an markanten Felsen – wie im Tofana-Schuss in Cortina d'Ampezzo. Hin zu über 40 Meter weiten Sprüngen. Mensch und Material sind am Limit. Was für die meisten nach einer Mutprobe klingt, gehört für Jasmine Flury aus Davos-Monstein zur Jobbeschreibung. «Eine Stimme in meinem Kopf konnte mir schnell einreden 'ja, ich kann das'. Aber es dauerte lange, bis sie zur tiefsten Überzeugung wurde», sagt die Abfahrtsweltmeisterin und Ski-Botschafterin der Destination Davos Klosters.
Für Flury war der Weg an die Weltspitze ein steiniger. In der Saison 2016 fährt sie wegen einer Verletzung an der Hüfte kein einziges Rennen. Selbst die Erfolge haben ihre Schattenseite. «Nach meinem ersten Weltcup-Sieg in St. Moritz 2017 setzte ich mich sehr unter Druck. Ich wäre fast daran zerbrochen; habe mich selbst zermürbt», sagt Flury. Sie hatte das Gefühl, diesen Erfolg bestätigen und sich beweisen zu müssen. «Daraus habe ich sicher viel gelernt», schiebt sie nach.
Ein Wimpernschlag entscheidet an der Weltspitze manchmal über den Sieg. Gleichzeitig ist es eine Gleichung mit vielen Unbekannten, woher die Hundertstel zum Erfolg kommen – oder wo sie fehlen. Ob die guten oder die schwierigen Momente ihrer Karriere: Begonnen hat alles im Skigebiet Rinerhorn in der Destination Davos Klosters. Mit drei Jahren steht Jasmine Flury zum ersten Mal auf Skiern. Sie selbst kann sich an diesen Moment zwar nicht mehr erinnern. Doch aus Erzählungen der beiden älteren Schwestern, denen sie auf der Skipiste nacheiferte, weiss Flury: Sie war sofort angefixt. Das erste Rennen mit drei Jahren ist ebenfalls verblasst. «Papa, wo muss ich anhalten – im Restaurant oder bei der Talstation?», habe sie damals am Start gefragt.
Ganz in der Nähe des Rinerhorns, im 200 Seelendorf Monstein wächst sie auf einem Bauernhof und allem, was dazugehört, auf: Milchkühe, Hühner und Alpschweine. Monstein ist eine Walser-Gemeinde, ein kleines Schmuckstück mit Holzhäusern. Der Vater führt heute gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin das Restaurant «Veltlinerstübli», welches seit dem 19. Jahrhundert im Besitz der Familie Flury ist. Jeder kennt jeden – wie könnte es anders sein. Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass Flury mit ihren zwei Schwestern, ihren beiden Stiefbrüdern und ihrem Halbruder aufwuchs.
«Mit Jason (Rüesch, Anm. der Redaktion) einen weiteren Profi-Sportler in der Familie zu haben, hat mich natürlich beeinflusst, auch wenn ich selbst niemals Langlaufen wollte. Ich bin froh, kann ich den Berg hinabfahren und muss ihn nicht hinauflaufen (lacht)». Zusammen fahren die beiden im Jahr 2022 an die Olympischen Spiele nach Peking. Natürlich tauschen sie sich regelmässig aus – während einer Skitour in Davos Klosters zum Beispiel. Sportlich gesehen ist das für Jason lediglich Grundlagen-, für sie selbst aber Intervalltraining, wie Jasmine erzählt.
«Ich bewundere immer wieder, wie akribisch er analysiert und wie diszipliniert sich Jason zurück an die Weltspitze kämpfte.» Auch er kennt die Rückschläge im Spitzensport aufgrund einer langen Zwangspause nur zu gut. Seit dem WM-Gold von Jasmine Flury in der Abfahrt ist die Geschichte ihrer Patchwork-Familie bekannter denn je. Davos-Monstein machte auch Schlagzeilen als polysportivster Ort der Schweiz, der gleich mehrere Spitzensportler hervorbrachte.
Kein Wunder, denn das Aufwachsen in Monstein ist eine sportliche Sache. «Wir mussten mit dem Velo mehrere Kilometer nach Glaris fahren, um in der grossen Turnhalle zu trainieren», sagt Flury. Ihr Lehrer verlagerte den Turnunterricht in der Klasse mit sieben Schülern daher von der kleinen Halle oftmals kurzerhand nach draussen, auf das eigene Eisfeld zum Hockeyspiel. Oder auf die Dorfstrasse zu einem Laufwettkampf, für den es Noten gab. Ein guter Ausgangspunkt für den Spitzensport? Davon ist Flury überzeugt.
Der Weg an die Weltspitze brauchte seine Zeit. Im Februar 2023 an den Ski-Weltmeisterschaften im französischen Méribel ging alles auf. Kurz zuvor stellt sie einiges um: Jasmine wechselt das Material und setzt auf ein neues Mentaltraining. Zudem verbringt sie den Sommer vor dem Weltcup-Start in ihrer Heimat statt in Übersee. «Ich habe viel daran gearbeitet, dass ich gedanklich nicht bei dem einen Schwung hängenbleibe, der nicht funktioniert hat», sagt Flury. Mit Erfolg: Sie ist nicht nur die erste Bündner Weltcup-Siegerin, sondern auch die erste Goldmedaillen-Gewinnerin aus Graubünden in der Abfahrt. Diesen Moment kann sie sich mit ihrer besten Freundin Corinne Suter teilen, die WM-Bronze in Méribel gewinnt. Ihr nächstes grosses, sportliches Ziel sind die Olympischen Winterspiele in Cortina d'Ampezzo und Mailand 2026, wie sie im nachfolgenden Kurz-Interview verrät. Dann geht es mit 130 Stundenkilometern durch den Tofana-Schuss, eine ihrer Lieblingsstrecken. Die Ski werden über die eisigen Stellen scharren, wenn es für sie wieder heisst: Jetzt keinen Fehler machen. Die Linie halten und am Limit fahren – ohne Angst und ohne Zögern.
Was ging Ihnen bei der Siegerehrung 2023 nach dem WM-Gold in der Abfahrt in Méribel durch den Kopf?
Die Zeit im Ziel war eine emotionale Achterbahnfahrt. Zuerst fieberte ich auf dem Leadersitz mit Startnummer zwei lange im Ziel, bis mein Sieg feststand. Danach war viel los bis zur Siegerehrung. Was sicher bleibt, ist dieser Moment, in dem ich die Augen schliessen und die Schweizer Nationalhymne singen durfte. Ein unvergesslicher Augenblick.
Seit über zwei Jahren sind Sie Ski-Botschafterin der Destination Davos Klosters. Welche Rolle spielt die Destination, wenn Sie sich auf Grossanlässe oder auf Ski-Weltcuprennen vorbereiten?
Im Sommer hatten wir früher sehr viele Trainingslager an den unterschiedlichsten Orten dieser Welt. Ich bin mit den Weltcuprennen das ganze Jahr über so viel unterwegs, dass ich diesen Sommer eine Kehrtwende machte und zum ersten Mal zu Hause Kraft tankte sowie meine Batterien auflud. Ich konnte mich daheim, in Ruhe, in der Natur und in meinem Umfeld auf die neue Saison vorbereiten. Das war wunderschön. Auch in schwierigen Zeiten meiner Karriere war Davos Monstein stets ein Kraftort für mich.
Und schwierige Momente gab es. Einmal konnten Sie wegen einer Verletzung kein einziges Rennen in einer Saison fahren. Wie motivieren Sie sich nach solchen Rückschlägen?
Rückschläge gehören zu einer Karriere im Spitzensport dazu. Die meisten Athleten müssen fast mehr Rückschläge als Erfolge verkraften. Ich lernte im Lauf der Zeit, positiver damit umzugehen und mich an den kleinen Fortschritten zu erfreuen. Solange das Feuer für den Sport in einem weiter brennt, gelingt es immer wieder die Motivation für das, was man am liebsten tut, zu finden.
Sie haben nach der obligatorischen Schulzeit in Davos alles auf die Karte Spitzensport gesetzt. Gäbe es im Nachhinein etwas, das Sie anders machen würden?
Nein. Alles im Leben, das nicht so gut lief inklusive der Fehler, haben mich zu der Person gemacht, die ich heute bin. Ich bin sehr stolz auf meinen Weg. Klar, manchmal kamen schon Zweifel auf. Gerade dann, wenn ich mich verletzte oder wenn es weniger gut lief. Heute bin ich mir aber sicher, dass ich nochmals alles auf eine Karte setzen würde: Wenn ich etwas mache, dann will ich es zu 100 Prozent richtig machen. Es ist schön, ist dieser Plan aufgegangen.
Die Olympischen Spiele 2026 in Italien sind nun neben den Weltcup-Rennen das nächste grosse sportliche Ziel?
Ja, wenn ich gesund bleibe und das Feuer fürs Skifahren noch immer in mir brennt. Ich freue mich, dass die Olympischen Spiele und Wettkämpfe wieder einmal hier Europa ausgetragen werden. Es ist sicher das grosse Ziel, an diesen Spielen erfolgreich zu sein.
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